Herzenskinder

In meiner Geschichte geht es um Angst und Trauer, um Unglück und Verlust, um Glück und um Liebe.

Im Jahr 2004 war ich in einer sehr toxischen und von emotionaler Abhängigkeit geprägten Beziehung. Mein damaliger Freund war gerade aus einem Auslandseinsatz zurückgekommen und hatte neben Dengue-Fieber auch eine psychische Krankheit mitgebracht. Wir haben oft getrunken und einmal nicht richtig aufgepasst – und dann war ich 22 und schwanger und er psychisch krank (Angststörung, Panikattacken, Borderline-Persönlichkeitsstörung).

Rückblickend empfinde ich mein Verhalten von damals als leichtsinnig. Ich war sofort sicher, dass ich in der Situation kein Kind will: Ich hatte meine Ausbildung gerade beendet spürte auch irgendwie, dass mein damaliger Freund zu dem Zeitpunkt keine Kraft gehabt hätte, Vater zu sein. Er wollte sich vor allem um sich kümmern, und ich wollte arbeiten, leben, die Welt entdecken usw. Mein Freund wollte das Kind, stand aber trotzdem hinter meiner Entscheidung.

Ich habe das alles durchgezogen: Beratung. Klinik und dann, obwohl ich so sicher war, dass es die beste und richtige Entscheidung war, ging es mir danach schlecht. Ich bin psychisch in ein totales Loch gefallen und habe es so bereut.

Mein Freund und ich legten es ein Jahr später auf eine Schwangerschaft an, doch es hat nicht mehr geklappt. Irgendwann ging diese Beziehung auseinander. Ich bin heute rational noch immer sicher, dass es in dieser Situation damals richtig war, den Abbruch durchführen zu lassen. Aber die Trauer um „mein Baby“ hielt trotzdem sehr lange an. In der Zeit der Trauer war ich nie sicher, ob ich das Recht habe, um mein Kind zu trauern und es zu vermissen. Schließlich hatte ich mich selbst gegen das Kind entschieden und hatte somit das Gefühl, es stehe mir nicht zu, zu trauern.

Ich habe keine Chance gehabt, mich zu verabschieden oder mich mit dem Verlust auseinanderzusetzen. Wenn ich vor der Trennung versuchte, mit meinem Freund zu reden, wurde er immer wütend und sagte, dass er das Kind ja hatte behalten wollen. So empfand ich immer die doppelte Schuld und gestand mir noch weniger Rechte zu, traurig zu sein.

Ab und an versuchte ich, mit Freundinnen darüber zu reden, doch das brachte nichts, weil jemand, der die Erfahrung nicht machen musste, das Ganze nicht verstehen kann. Als ich 2007 anfing zu studieren, kochte alles noch einmal hoch: Wir hatten ein paar sehr christliche Menschen in unserer Uni, die auch in vielen meiner Seminare waren. Weil ich Sozialarbeit studiert habe, wurde natürlich die Selbstbestimmung der Frau und somit auch Abtreibung immer mal wieder Thema in einigen Diskussionen. Hier schlug ich mich immer auf die Seit der Abtreibungsbefürworter, obwohl ich dieses Wort so verabscheue, weil ich selber erfahren musste, wie weh so eine Abtreibung tut, und ich sicher bin, dass die wenigsten Frauen so eine Entscheidung leichtfertig treffen. Nicht so wie ich. Ich war mir der emotionalen Konsequenzen nicht bewusst gewesen. Deshalb verteidigte ich die Abtreibung gegen die „Hardliner“. Die Diskussionen machten mir immer sehr zu schaffen.

Natürlich bin ich für Abtreibung. Ich finde es sehr wichtig, dass eine Frau das Recht am eigenen Körper hat. Niemand außer mir darf über meinen Körper entscheiden! Und trotzdem spürte ich eben auch mit Nachdruck, wie sehr man leidet, wenn man sich gegen sein Kind entscheidet, und DAS sagt einem vorher niemand, auch nicht die Beratungsstelle oder der Arzt.

Eigentlich hörte der Schmerz um den Verlust meines Babys erst auf, als ich mit meiner Tochter dann sechs Jahre nach der Abtreibung wieder schwanger war.

Das war auch ungeplant. Quasi ein Kondom-Unfall im Auslandssemester. Aber nochmal abtreiben wäre niemals denkbar gewesen, auch wenn der Vater das angesprochen hatte (Tradition, Religion, Familie usw.). Ich hatte ihm damals gesagt, dass er das mit mir durchziehen kann – oder eben nicht. Er kam dann nach Deutschland, als die Kleine drei Monate alt war.

Nach zwei Jahren haben wir uns getrennt, weil es eben doch nichts bringt, sich zu verbiegen, weil man ein Kind zusammen hat. Es war alles schwer, aber alles machbar und meine Tochter ist so ein wundersüßes Kind. Glücklich, lebendig, hilfsbereit und inzwischen acht Jahre alt. Meine Tochter hat mit ihrem Vater regelmäßigen und sehr liebevollen Kontakt. Er bereut keine Sekunde, dass es sie gibt, auch wenn das für ihn eine wahnsinnige Umstellung bedeutet hatte.

Und ich? 2014 habe ich einen Mann kennengelernt, mit dem ich dann auch bald zusammengezogen bin. 2015 hatte ich eine „Missed Abortion“ in der 15.SSW – da kam dann alles aus 2004 wieder hoch. Doch da habe ich mir erlaubt zu trauern, und zwar nicht nur um das verlorene Baby, sondern das erste Mal auch wirklich um mein anderes Sternenkind.

Vor 3 Jahren kam dann mein Sohn zur Welt. Er ist behindert und wir (mein Mann und ich) erhielten die Diagnosen „Offener Rücken, Wasserkopf, inkomplette Querschnittslähmung “ in der 22. Schwangerschaftswoche. Uns wurde zu einem Spätabbruch geraten. Uns wurde auch gesagt, dass wir bei der Diagnose noch bis zum Einsetzen der Wehen „abbrechen“ können. Uns wurde auch erklärt, wie so ein Spätabbruch funktioniert: mit einer Kaliumspritze durch die Bauchdecke der Mutter ins Herz des Kindes. Bei Eintreten des Herzstillstandes werden dann die Wehen eingeleitet.

Wir wollten das gar nicht hören, denn wir haben nicht eine Sekunde daran gedacht, die Schwangerschaft zu beenden. Wir haben geweint und waren hilflos. Wir hatten Angst und waren wütend. Wir haben gezittert und gehofft, und wir haben entschieden! Wir haben uns für unseren Sohn entschieden und für alles, was er mit sich bringt. Die Prognosen gingen weit: geminderte Intelligenz, Blasen- und Darminkontinenz, ein Leben im Rollstuhl, Pflegbedürftigkeit, Krankenhausaufenthalte und viele Operationen.

Es hat sich gezeigt, dass der Outcome gar nicht so schlecht ist. Einiges traf zu, anderes nicht. Unser Sohn kann mit Schienen laufen und hat für längere Wege einen superschicken Rollstuhl. Er hatte drei Operationen, davon eine aufgrund des Wasserkopfes und eine wegen des Rückens (diese Operation wurde sogar noch vor der Geburt durchgeführt).

Er hat eine neurogene Blasen- und Darmstörung, die wir aber bis jetzt gut im Griff haben, indem wir ihn katheterisieren und ihm Einläufe machen. Natürlich haben wir viele Termine und unser Sohn ist zeitintensiver als ein gesundes Kind. Aber er ist so ein sonniges und zauberhaftes Wesen, und ich bin so unendlich dankbar für ihn. Jetzt geht er auch in eine Kita, wo er als Integrationskind extra Förderung bekommt, er findet Freunde, geht turnen und reiten und hat so viel Spaß am Leben.

2004 habe ich gedacht, mein Leben geht zu Ende. Ich war sicher, dieser Schmerz hört niemals auf. Ich weiß aber auch, dass die Trauer nicht nur die Trauer um das Baby war. Ich habe auch um meine Beziehung getrauert, um die Psyche meines Freundes, darum, dass mir die Beziehung nicht gutgetan hat und ich nicht loslassen konnte. Es ging einfach viel zu viel ums Loslassen in dieser Zeit.

Dennoch – wäre ich noch einmal in derselben Situation, hätte ich mich trotz allem für das Kind entschieden, vor allem, weil ich durch meinen Sohn gelernt habe, wie viel Kraft in mir steckt und was ich alles schaffen kann.

Heute bin ich glücklich mit meiner verrückten Patchworkfamilie. Ich liebe meine Kinder unendlich und denke, dass immer eine Entscheidung zur nächsten führt. Inzwischen habe ich auch mit der Abtreibung abgeschlossen und wenn jemand fragt, dann habe ich zwei Kinder an der Hand und zwei Kinder im Herzen.

(Sarina)

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