Mein Name ist Lisa. Ich bin 37 Jahre alt, Mama von drei wunderbaren Kindern und seit 22 Jahren mit meinem Mann zusammen.
Die beiden ersten Kinder bekam ich sehr jung: Ich war 18 und 20 Jahre, als sie zur Welt kamen. Von meiner Familie konnte ich schon damals keine große Hilfe erwarten – im Gegenteil: Sätze wie: „Ihr schafft das sowieso nicht!“, waren allgegenwärtig. Doch wir schafften es, und mit 26/27 entbrannte ein neuer Kinderwunsch. Dass es so schwer werden würde, diesen zu erfüllen, hätten wir nicht gedacht. Nach Jahren ohne Erfolg suchten wir uns Hilfe in einem Kinderwunschzentrum. Wir machten unzählige erfolglose Hormonbehandlungen, bis wir mit Inseminationen begannen, die nach vier Versuchen zum Erfolg führten. Wir waren überglücklich, als ich den positiven Test in der Hand hielt. Alles lief zunächst perfekt, abgesehen von dieser schrecklichen Übelkeit. Schnell gesellte sich das massive Erbrechen dazu (Hyperemesis – in einer ganz schlimmen Form). Ich wog schon vorher sehr wenig. Leider musste ich mehrfach in die Klinik zur Infusionstherapie. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Mittlerweile wog ich nur noch 38 Kilo. In der 24. SSW hatte ich abends starke Bauchschmerzen, und ich bat meinen Mann, mich in die Klinik zu bringen. Es waren Wehen, die sich auf die Zervix auswirkten. In der Klinik ging alles ganz schnell: Ich wurde in den Kreißsaal geschoben, und zig Menschen und Ärzte redeten und erklärten. Der einzige Satz, der hängenblieb: „Wenn die Wehenhemmer nicht anschlagen, wird ihr kleiner Sohn zur Welt kommen.“ Er wog geschätzte 800 Gramm. Da gab es kein Halten mehr, und wir brachen in Tränen aus. Der Wehenhemmer wurde angeschlossen, und ich lag zugedröhnt auf dem Kreißsaal-Bett. Die Wehen hörten auf, und ich bekam die erste Lungenreife-Spritze. Das Krankenhaus wurde mein neues Zuhause, ich durfte nur liegen. Erst in der 34. SSW konnte ich endlich heim. In der 36 SSW. kam unser Sohn zur Welt, er war gesund, klein und leicht.
Ich wollte immer viele Kinder haben. In einem unbeschwerten Urlaub wurde ich überraschend schwanger. Dabei hatte es all die Jahre nicht funktioniert! Ich freute mich und rief meinen Mann in der Mittagspause an. Er war baff und wollte später in Ruhe darüber reden. Abends im Wohnzimmer schaute er mich an und sagte: „Wir können dieses Baby nicht bekommen!“ Es war ein Schlag ins Gesicht, und mein Herz zerbrach in diesem Moment in tausend Teile. Er war überzeugt, dass wir es nicht schaffen und unsere Familie daran zerbrechen würde, wenn wir noch einmal derartige Ängste ausstehen müssten wie damals mit unserem kleinen Sohn. Ich fing an zu weinen und verstand die Welt nicht mehr.
Am nächsten Tag musste ich mit Verdacht auf eine Eileiterschwangerschaft in die Klinik, wo ich stationär aufgenommen wurde. Ich schrieb viel mit meinem Mann, der nach wie vor der Auffassung war, dass wir es nicht verkraften würden, wenn wir das Baby verlieren. Ab diesem Zeitpunkt machten sich bei mir Ängste breit – Ängste, Verzweiflung und Wut.
Mit einer intakten Schwangerschaft wurde ich aus der Klinik entlassen. Ich war wie in einem Tunnel gefangen, jegliche Gefühle zu meinem Baby hatte ich „abgestellt“. So wurde ich beim Frauenarzt vorstellig und sprach das aus, was für mich immer undenkbar gewesen war: Ich forderte einen Schwangerschaftsabbruch und ließ mir alles erklären. Zu dem Beratungsgespräch in der Konfliktberatungsstelle begleitete mich mein Mann. Hilfsangebote gab es keine – im Gegenteil: Die Beraterin schickte mich in den Tunnel voller Angst zurück. Binnen 5 Minuten hatte ich diesen Schein in der Hand.
Zwischendurch gab es einen Moment, in dem ich kurz aus dem Tunnel entkam und ich dachte: „Ich schaffe es mit meinem Mann oder auch ohne ihn!“ Doch meine Schwiegermutter erstickte diesen kurzen Hoffnungsschimmer im Keim, indem sie mir vorhielt, wie schlimm die Zeit der letzten Schwangerschaft war. Wir sollten das Glück nicht noch einmal herausfordern. Was wäre, wenn ich es körperlich nicht schaffen würde usw.? Jegliche Gefühle, die neu entflammt waren, stellte ich erneut ab. Ich funktionierte nur noch, und ich wollte den Abbruch so schnell es geht hinter mich bringen.
Bei der Voruntersuchung für den Abbruch erklärte mir der Arzt alles, er war sehr lieb und drehte beim Ultraschall den Bildschirm von mir weg. Heute wünschte ich mir, er hätte ihn zu mir gedreht…
Am Tag des Eingriffs saß ich mit meinem Mann morgens im Wohnzimmer und das einzige, was ich mir wünschte, war, dass er mir hilft, dass er mir sagt: „Schatz, wir schaffen das!“ Als ich die Tabletten zur Vorbereitung des Eingriffs nahm, wusste ich: Jetzt gibt es kein Zurück mehr!
Sie brachten mich in einen Raum, wo schon zwei Damen lagen und gerade langsam aus der Narkose erwachten.
Ich sollte mich untenrum frei machen. Als die Narkoseärztin kam, brachen alle Dämme. Ich weinte schrecklich und sagte: „Ich möchte das alles nicht!“ Am liebsten wäre ich, nackt wie ich war, aus der Praxis rausgerannt. Denn da war sie, die Liebe zu meinem Baby. Sie war mit voller Wucht zurückgekehrt: Was zum Teufel tue ich da gerade?
Doch es gab keinen Weg mehr zurück, es war zu spät.
Man führte mich in den OP und schnallte meine Füße fest. Die Narkoseärztin versprach, auf mich aufzupassen und fragte mich, wo ich am liebsten hinreisen würde. Die andere Schwester streichelte meine Hand. Und ich weinte und weinte und schluchzte und wünschte, ich läge am Strand.
Beim Aufwachen fühlte ich zunächst Erleichterung: Die große Last war weg. Mein Mann wartete draußen und ich bestätigte, es sei die richtige Entscheidung gewesen. Mir ging es körperlich super, und ich dachte, es wäre alles so, wie es mal war.
Bis ich zwei Tage später vor dem Spiegel stand: Das war nicht mehr ich! Ich weinte bitterlich. Was ich fühlte, ist unbeschreiblich: Ich hatte mein eigenes Kind ermordet!
Seitdem veränderte sich alles: Ich weinte mich jede Nacht in den Schlaf, konnte mich nicht mehr spüren. Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich dachte, es sei besser, tot zu sein. Ich wollte bei meinem Kind sein. Ich redete viel mit meinem Mann, der dieses Gefühl nicht verstehen konnte. Wie auch? Er hatte unser Kind nicht umgebracht – er spürte diese Leere nicht.
Ich suchte mir Hilfe und noch heute – zwei Jahre später – gehe ich zur Therapie und weine mich oft in den Schlaf. Ich bete und rede jeden Abend mit meinem Kind und bitte es um Verzeihung. Ich wünschte mir, ich hätte das alles nie getan.
(Lisa, 37)
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