Schneller Schritt

Mit 18 hatte ich einen Freund, der bei meinen Eltern nicht gern gesehen war. Nicht nur die Tatsache, dass er vorbestraft war, machte ihn bei ihnen unbeliebt. Ich hingegen nahm ihn so, wie er ist. Nach einigen Tagen der Beziehung kam es zum Geschlechtsverkehr. Da ich weder Pille, Implantat noch Spritze vertrug, benutzte er ein Kondom. Doch dieses platzte. Nach anfänglicher Wut auf ihn machte ich mir keine weiteren Gedanken und wartete auf meine Regelblutung.

Als ich zwei Tage über dem Termin war und mir jeden Morgen schlecht wurde, vertraute ich mich meiner Schulkameradin an. Locker und leicht beschloss ich auf ihren Rat hin, in die gegenüberliegende Apotheke zu gehen, um mir den billigsten Schwangerschaftstest zu kaufen. Ich ging auf die Toilette und machte den Test. Nachdem ich herauskam, setzte ich mich an den Tisch. Nach Minuten des Wartens traute ich meinen Augen nicht. Keine Ahnung, wer in diesem Moment schlimmer schaute, sie oder ich? SCHWANGER!

Jetzt wollte ich nur noch mit meiner Frauenärztin sprechen. Einen Tag später hatte ich einen Termin. Sie machte einen Ultraschall und gratulierte mir. „Wie geht es jetzt weiter?“ Ich war unter Schock und verstand nicht, was sie mir da gerade erzählen wollte.

Es war heftig, denn der Kindesvater war unzuverlässig, und ich hatte keine Ahnung, ob ich es meinen Eltern sagen soll. Mein Daddy ist einfach der Beste, aber dessen damalige zweite Frau ist alkoholabhängig. Ich lebte bei ihnen. Zu meiner Mutter und ihrem Partner habe ich seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ich weihte einen guten Freund ein, der schneller als gedacht dafür sorgte, dass jeder (bis auf meine Eltern) wusste, was los ist. Über einen Messenger wurde ich dann von verschiedenen Personen gefragt, ob sie Patentante werden dürfen …

Damals dachte ich: „HALLO!? Ich habe gerade erst erfahren, dass ich schwanger bin. Mein Ex ist ein Arschloch und meine Stiefmutter trinkt. Wo soll ich hin? Wie soll ich meine Berufsfachschule beenden? Werde ich mit Kind eine Ausbildung finden und packen? Der Erzeuger ist ein Knasti gewesen!“ Ich fühlte mich einfach nur unverstanden und überrumpelt!!!

Zwei Tage später rief mich meine Stiefmutter zu sich in die Küche. Mein Herz schlug so schnell wie nie zuvor. Wusste sie, was Sache ist, ohne dass ich etwas gesagt hatte?“ Sie erzählte mir: „Biene, ich habe geträumt, dass du schwanger bist, und ich muss dir sagen, dass ich nicht hinter dir stehen könnte.“ Seit diesem Satz stand meine Entscheidung fest. Ich hatte niemanden und konnte das meinem Kind nicht zumuten! Mein Baby darf nicht leben, denn hergeben kann ich es nicht. Es ist ganz allein meins!

Kurze Zeit später hatte ich erneut einen Termin. Wieder wurde eine Ultraschalluntersuchung gemacht. Auf dem Bild war bloß ein winziger Punkt zu sehen. Diesmal musste ich meine Entscheidung kundgeben. Es wurden die weiteren Wege besprochen. Eine „Freundin“ begleitete mich zur Krankenkasse. Sie hatte selbst drei Kinder und bereits eine Abtreibung hinter sich.

In der Schule schauten mich alle so komisch an, dabei wusste keiner was davon. Eine der Schülerinnen war hochschwanger. Ihr Anblick machte mich fertig. Ich fing an zu weinen und ging vor die Tür. Mein Mathelehrer kam hinterher und sagte: „Sabine, du bist schwanger. Ich merke das, denn ich weiß, wie sich Mädels in deinem Alter in dieser Situation verhalten, meine Frau ist Gynäkologin“. Ich konnte nur nicken und ging nach Hause. Das war alles zu viel. Schon jetzt, wo mein Schatz in mir lebte.

In der Zwischenzeit lernte ich einen jungen Mann kennen, der mich so nahm, wie ich bin. Er wusste Bescheid und begleitete mich zu dem Termin bei Pro Familia, wo uns eine Dame mittleren Alters empfing. Wir wurden in einen Raum begleitet, in dem ich nun alles erklärt bekommen sollte. Ich wurde nach den Umständen gefragt und äußerte meine Bedenken. Sie schaute meinen Freund an und fragte ihn, ob er sicher sei, dass ich das wirklich wolle. Er bestätigte dies natürlich. Diese Frau erklärte mir nicht einmal, welche Hilfen ich hätte bekommen können. Sie erzählte mir sofort, wie mein Kind abgesaugt wird (natürlich total verharmlost) und ließ mich die Papiere für den Abtreibungstermin unterschreiben. Somit war alles geklärt.

Am Freitag vor der Abtreibung bekam ich einen Anruf von der Mutter des Erzeugers. Soweit hatte es sich also schon herumgesprochen. Sie versprach, keinem was davon zu sagen und verkündete, dass er wieder hinter „schwedischen Gardinen“ sitzt. Sie verabschiedete mich mit den Worten: „Ich wäre gerne Oma geworden, doch bei meinem Sohn kann ich verstehen, dass du dein Kind nicht austragen willst.“ Die Oma meines Kindes bestätigte mein Denken. Jetzt waren es nur noch drei Tage bis zu dem Termin der Abtreibung.

Am Samstag vor der Abtreibung bekam ich eine Blutung. Ob das der ganze Stress war?

Montagmorgen fuhren mein Freund und ich an den Ort, an dem mir mein Baby entfernt werden würde. Der Arzt rief mich auf, nachdem ich wieder Papiere unterschreiben musste. Er machte das letzte Ultraschallbild und meinte nur: „Es ist durch ihre Blutung eine absolute Risikoschwangerschaft und wahrscheinlich, dass Sie das Kind verlieren werden.“ Dann wurde ich in ein Zimmer gebracht, in dem ich mein Nachthemd anziehen musste. Sie holten mich und ich musste mich auf eine Liege legen. Meine Arme wurden fixiert und ich spürte, wie der Arzt mich im Intimbereich desinfizierte, während einer der anwesenden Frauen meinen Kopf streichelte. „Warum in Gottes Namen streichelt die meinen Kopf, bin ich ein Baby oder was?“ Ich erhielt eine Spritze und schlief sofort ein.

Als ich wieder wach wurde, rief man meinen Freund herbei. Ich umschloss ihn fest und fing an zu weinen. Nein, ich war nicht traurig, es war wie ein Stein, der auf meinem Herzen saß und mich bedrückte, und nun war er weg. Die Welt schien in Ordnung zu sein.

Auf der Toilette sah ich dann die Überreste der Desinfektion und die starke Blutung, die folgte. Ich hatte Schmerzen und wollte nur noch nach Hause. Dort legte ich mich ins Bett und behauptete, ich hätte Kopfschmerzen.

Am nächsten Tag ging ich trotz Krankschreibung zur Schule, damit niemandem etwas auffiel. Alles war in Ordnung, und ich genoss mein Leben Tag für Tag.

Doch eines Tages fuhr ich mit meiner Klasse zur Ausstellung „Körperwelten“. Dort kam das böse Erwachen. Nun stand ich das erste Mal vor einem Glas, in dem ein Kind in der 7. Schwangerschaftswoche eingelegt war. Es hätte meins sein können. Es hatte zwar noch einen bohnenförmigen Kopf und Hautlappen zwischen den Fingern und Zehen, doch ich konnte alles sehen. Ich fing an zu weinen und wurde von meiner Klassenkameradin nach draußen gebracht. Es war zu viel, denn jetzt fing ich an zu realisieren, was ich getan hatte!!! Der zweite Schlag ließ nicht lange auf sich warten. Eine Freundin, die zehn Tage nach mir schwanger wurde, hatte ihr Kind bekommen.

Einige Zeit später begann ich meine Ausbildung zur Krankenschwester. Ich fing an zu forschen, wann ein Kind wie weit entwickelt ist. Mein Kind hatte schon einen Herzschlag, fing gerade an zu hören, und auch das Hirn arbeitete schon. Es musste nur noch wachsen! Warum zum Teufel haben die Gynäkologen (und es waren ja insgesamt drei!) mir nichts gesagt?! Ich hätte nie abgetrieben! Es hat gelebt, und nur mir war das nicht bewusst.

Vier Jahre später beschäftigte mich der Kinderwunsch so sehr, dass ich vorher alles geklärt haben wollte. Ich beantragte die Papiere meiner Abtreibung.

Meinem Kind schrieb ich in einem Kondolenzbuch eines Onlinegrabes, denn dort ist der einzige Ort, an dem ich mit meinem Kind offen sprechen kann und meine Worte nicht vergehen: „Hey Baby, gestern habe ich einen Brief erhalten, in dem steht, dass ich die Möglichkeit habe, alle Unterlagen von deiner ,Geburt‘ zu bekommen. Bin viel am Nachdenken, ob ich das wirklich tun sollte. Ich würde das erste Mal nach 4 Jahren Bilder sehen, Bilder mit einem Punkt drauf. Ja, du warst der Punkt … Ich vermisse dich jeden Tag so unendlich doll! Oh Leonie, wenn ich dich zurückholen könnte, würde ich es tun. In Zukunft will deine Mama Sterbende begleiten und evtl. Beratung von Schwangeren lernen, die eine Abtreibung machen wollen … Sie hat es noch immer nicht verkraftet. Süße, bleib stark! Jetzt, wo ich weiß, wo ich dich finden kann, werde ich öfter mal reinschneien und Grüße dalassen … In ewiger LIEBE, deine Mama.

Leonies Vater bekam eine Kopie von dem Grab ins Gefängnis geschickt, obwohl er mir vorher drohte, dass was passieren würde, wenn ich Leonie nicht behalte. Heute trauert er auf seine Art. Er fragt sich, ob es nicht Schicksal war und wir es noch einmal versuchen sollten. Doch das will ich nicht.

Irgendwann werde ich Mutter sein und mein zweites Kind wird einen Namen erhalten, der an meine Leonie erinnert. Sie gehört dazu, und ich werde sie nie wieder hergeben, denn in meinem Herzen wird sie für immer sein!

Es sind nun neun Jahre vergangen, und ich habe viel erlebt. Ich bin Krankenschwester und Hospizhelferin (Sterbebegleiterin). Der Freund, der uns damals zur Abtreibung fuhr, ist sehr jung verstorben und passt jetzt bestimmt auf meinen Engel auf. Sterbende, die ich in der Ausbildung und auf der Krebsstation traf, verabschiedete ich mit den Worten: „Grüß meinen Engel, passe auf ihn auf. Sag ihr, dass ich sie liebe und nie vergesse. Erzähl ihr von meiner Reue und der Hoffnung, sie eines Tages in die Arme nehmen zu dürfen.“

Der Schmerz ist auch nach den vielen Jahren noch so intensiv, als sei es gestern gewesen. Ich habe keine Angst zu sterben, denn ich weiß, ich werde meine Tochter wiedersehen!

Meine Eltern wissen inzwischen davon, und mein Daddy und seine jetzige Frau leiden mit mir. Meine Mutter und ihr Freund machten mir Vorwürfe und fragten, warum ich mich nicht gemeldet hätte, sie hätten mir geholfen.

Ja, es ist wahr, ich habe die Einwilligung zum Tod meines Kindes gegeben, und ich kann es nicht widerrufen. Ich möchte … nein ich WILL mein Kind zurück!!! SOFORT!!!

Um mich herum kann keiner das empfinden, was ich empfinde, denn ich hatte keinen Spaß daran, ich habe meinen inneren Tod selbst bestimmt. Mit meiner Tochter ist auch ein Teil von mir gestorben, und das nur, weil ich es gut meinte und nie ahnte, dass mein Leben ohne Leonie viel schwerer werden würde als mit ihr an meiner Seite.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie bei mir ist, wenn es mir nicht gut geht. Manchmal singe ich für sie. In meiner Vitrine hat sie ihren Platz mit Spielzeug, Spieluhr und ihrem Bild. Auch ein unbeschrifteter Grabstein steht dort, der irgendwann ihren Namen und ihr Sterbedatum erhalten wird. Doch all das bringt sie nicht zurück.

Es ärgert mich, dass ich mich mit dem Thema nicht auseinandergesetzt habe, als ich in dieser Situation war.

Ich bin heute verheiratet und habe einen gesunden Jungen. Mein Ehemann versteht zwar nicht alles, aber steht hinter mir! Jetzt, wo das Personenstandgesetz geändert wird und auch Kinder unter 500 g eingetragen und bestattet werden dürfen (auch rückwirkend), werde ich alles tun, damit Leonie auch auf den Papieren mein erstes Kind wird! Unser Sohn Eric wird von Anfang an wissen, dass es Leonie gegeben hat und in Mamas Herz immer geben wird.

Meine Mutter hat ihren Freund geheiratet. Wir haben uns ausgesprochen und pflegen den Kontakt sehr! Heute sehe ich, dass ICH den Schritt hätte gehen müssen! Sie hätten mich NICHT ALLEIN gelassen und sind wundervolle Großeltern! Die Nichte meiner Oma wird dieses Jahr auch Mutter, und wenn es eine Tochter wird, soll sie Leonie heißen. Ich habe mich als Tante angeboten und hoffe, dass diese Leonie das Leben führen kann, das meine nie führen wird.

An alle, die dies gelesen haben:

Oft habe ich gedacht, dass ich Menschen um mich habe, die zu mir stehen. In 90 % der Fälle stand ich am Ende allein! Es schmerzt bis heute, wenn ich daran denke, dass es Realität ist! Alleine schafft man das nicht, denkt man. Aber könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich einen Menschen an meiner Seite haben, der immer zu mir stehen würde und ich zu ihm … MEINE TOCHTER!

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