Was mir niemand gesagt hat…
§218 StGB: Von Strafe befreit, die Schuld bleibt – Persönlicher Bericht eines Mannes

Wovon ich hier Zeugnis ablegen möchte, hat sich 1983 und in den Jahren danach abgespielt. Es liegt heute zwar bereits mehr als 35 Jahre in der Vergangenheit, aber der Mantel des Vergessens will sich einfach nicht darüber ausbreiten, und er soll es nun auch gar nicht mehr.
DIES IST EINE WAHRE GESCHICHTE! Leider ist es meine Geschichte, und ich spiele darin eine unrühmliche Rolle.

Die frühen 80er Jahre in der alten Bundesrepublik, in Bayern, in Franken, am Rande der Großstadt …
Hard Rock und Neue Deutsche Welle. Die Autos hatten noch keinen Katalysator.
Ein Handy, was soll das sein? Computer sind noch nicht allgegenwärtig, noch selten. Wer oder was ist „Internet“?
Ronald Reagan ist US-Präsident, Helmut Kohl wird Kanzler. Es gibt 2 deutsche Staaten: einer vor und einer hinter dem „Eisernen Vorhang“. Es ist noch Kalter Krieg. Der atomare Overkill ist ständig in greifbarer Nähe.
In unserer Stadt gehören Militärfahrzeuge zum gewöhnlichen Straßenbild.

Punk- und Anarchoszene. AIDS, Atomkraftwerke, Endlagerstätten, Proteste…
Dauerstreit um die Reform des Paragraphen 218: sollen Frauen unter bestimmten Bedingungen abtreiben dürfen?
Eine wilde, unruhige, aufgewühlte Zeit.

Als Heranwachsender darf man immer früher immer mehr…
Es gibt noch mehr richtige Familien als heute, aber da es den Menschen im Westen so gut geht, werden sie immer sorgloser und zügelloser, sie sehen viele Dinge anders als früher. Manche Dinge verstehen sie gar nicht mehr so richtig. So manches wird plötzlich als altmodisch, traditionell und überkommen abgetan.

Am Horizont gab es noch keine Windräder, der Blick war noch frei und angenehm.
An meinem Horizont sah ich hauptsächlich nach Mädchen und Motorrädern.

Ich war damals fast immer ein „Mitläufer“ gewesen. In der Herde meiner Mitschüler fühlte ich mich am Wohlsten. In der Schule war ich gegen das, wogegen die Meisten waren, und ich machte das, was die Meisten, oder zumindest die, die den Ton angaben, gut fanden, oder was ich glaubte, daß sie gut finden würden. Bloß nicht so werden wie die eigenen Eltern!

Abitur und 15 Monate Wehrdienst lagen dann hinter mir. Ich hatte noch mein schönes Zimmer bei meinen Eltern.
Der „Absprung“ dort erschien mir aber noch etwas zu gewagt, ich war noch nicht so weit.
Irgendetwas zog zwar an mir, mich auf eigene Füße zu stellen, das machten immer mehr meiner
Freunde und Bekannten. Aber Studieren wollte ich nicht, ich hätte auch nicht gewußt, was, und, um ehrlich zu sein, habe ich mich ein wenig davor gefürchtet.
Mein Vater war selbstständig, und ich sollte und wollte sein Nachfolger werden.

Nach der Bundeswehr machte ich mit einigen ehemaligen Mitschülern eine 2-monatige Fahrt nach
Afrika mit dem Auto, das war damals noch ziemlich abenteuerlich, zumal mit unseren alten „Klapperkisten“. Weite Reisen zu machen war damals noch nicht so ein Breitensport wie heute, es fing damals gerade erst an unter jungen Leuten.

Plötzlich verheiratet

Aus Afrika zurück, kam ich mit E. zusammen. Ich kann gar nicht mehr sagen, wie es zugegangen ist. Plötzlich war ich mit ihr zusammen, obwohl sie die Freundin eines nicht ganz so nahen Freundes war. Sie hatte die Nase voll von ihm, wollte nicht mehr dauernd von ihm betrogen werden, er war gerade `mal wieder ohne sie in Urlaub gefahren. Daß er nicht treu sein konnte, war bekannt.

Sie war 2 Jahre älter als ich und sehr hübsch und studierte Jura. Ich fühlte mich geschmeichelt. Ich war gerade Anfang 20, wollte das Leben entdecken, war aber immer unentschieden. Durch E. schien ich plötzlich erwachsen werden zu können. Sie erschien mir schon viel reifer als ich selbst war.

Ich habe die Welt wie im Traum erlebt. Nach dem wirren, schwül-heißen, von vielen Problemen geplagten Afrika wieder zurück in die Ordnung und Kultur in Europa. Deutschland im Frühling: Sonnenschein, Blütenduft, eine aufkeimende Liebe… Endlich angekommen, endlich geht mein Leben los…

Es war eine hoffnungsvolle, aber dann bald auch eine sehr dunkle Zeit für mich. Wenn ich damals geahnt hätte, wie düster sie danach noch werden sollte, und wenn ich gewußt hätte, was ich heute weiß, hätte ich ganz sicher anders gehandelt.
Es kam zu ersten Gegensätzen zu meinen Eltern. Vielleicht spürten sie, daß es zwischen mir und E. etwas Ern-stes war, zumindest von meiner Seite. Vielleicht spürten sie auch irgendwie, daß ich noch nicht soweit war, ei-gentlich sogar noch ziemlich lebensuntüchtig und „grün hinter den Ohren“.
In dieser Situation habe ich gedacht, ich müsse ein Zeichen setzen und ein Bekenntnis ablegen für E.:
wir beide wollten es daher „fest“ machen, wir beschlossen zu heiraten. Auch Ihre Eltern waren nicht so ganz begeistert, aber immerhin wohlwollend.
Durch die Konflikte mit meiner Familie, denen wir uns ausgesetzt sahen, wurde es nur der formale Akt auf dem Standesamt, nur mit den beiden Trauzeugen, es war der 11.11., zudem noch trüb, kalt und verregnet. E. und ich gingen danach noch ganz formlos in ein Lokal, nicht einmal die Trauzeugen durften uns begleiten.

Aber mit dem Tag der Eheschließung begannen ernste Schwierigkeiten zwischen uns. Es war, als ob bei E. plötzlich irgendein Schalter umgelegt worden wäre. Vielleicht spürte auch sie nun meine Unreife?
War ihr Ja-Wort etwa nur eine Kurzschlußhandlung im Konflikt mit meinen Eltern gewesen, und nun wurde ihr die Tragweite klar?
Bei E. trat ein, was man als psychische Probleme bezeichnen würde, sie wirkte auf einmal irgendwo tief in
ihrem Inneren verunsichert, war sehr mißtrauisch, und von da an kam es häufig zu Konflikten zwischen uns.
Ihre Eltern und Geschwister, auch ihre Oma machten Andeutungen, daß sie auch schon früher immer wieder einmal „schwierig“ gewesen war. Aber anscheinend ließ sie nur nahestehende Personen in ihr Inneres blicken, und nun gehörte auch ich dazu.
Nichtsdestotrotz: Ich war verheiratet und liebte meine Frau sehr, und auch ihrer Familie war ich sehr innig zugetan. Wir beschlossen, trotz der Spannungen mit meiner Familie noch einmal neu anzufangen.
Alle fanden sich allmählich in die neue Situation ein, die Lage entspannte sich wieder. E. und ich beschlossen gemeinsam, daß ich im Geschäft meines Vaters bleibe, sie begleitete mich oft auf meinen Auslieferungsfahr-ten, hätte auch Schritt für Schritt meine Mutter bei den Büroarbeiten unterstützen können. All das machte ihr Spaß und lag ihr im Blut. Als im Haus meiner Eltern eine ihrer 7 Mietwohnungen frei wurde, beschlossen wir zur Freude meiner Eltern, dort einzuziehen, und bestellten sogar eine teure, maßangefertigte Einbauküche dafür.

Vater werden?

Dann sollte ich Vater werden, zum ersten und bisher einzigen Mal in meinem nun schon recht langen Leben:
E. wurde schwanger.
Für sie war sehr schnell klar, daß „es weggemacht werden“ sollte. „Es“ paßte nicht in die wirre, zerfahrene Situation. Ich habe nie herausgefunden, ob sie noch andere Beweggründe hatte. Ich selbst hatte dazu nicht so wirklich eine Meinung, schwankte zwischen Furcht und Freude. Ich habe es dann erst einmal betrachtet wie ein Ding, das man bekommen soll, aber irgendwie nicht ganz zum passenden Zeitpunkt. Man kann es ja später jederzeit wieder anschaffen.

Ich merkte, wie sich E. innerlich verhärtet hat, als wir darüber geredet haben und sie mir ihren Entschluß mit-teilte, daß „es weggemacht“ wird. Man hat es ihr deutlich angemerkt, als ob sie plötzlich versteinert. Sie wollte „es“ nicht. Vielleicht sah sie insgeheim auch keine gemeinsame Zukunft für uns.
Nüchtern betrachtet hat es meine damalige Frau alleine entschieden, es war eigentlich ihr alleiniger Entschluß. Ich habe mich mitziehen lassen. Sie war oft so entschlossen, schien zu wissen, was sie wollte, das imponierte mir sehr. Konnte sie hier irren? Sonst stimmte doch immer, was sie sagte…
Aber ist es deswegen weniger meine Verantwortung? Nein, sicher nicht, im Gegenteil!
Ich war der Mann, ich hätte mich kundig machen sollen, hätte mit ihr reden müssen, hätte ihr Sicherheit geben sollen, und notfalls ein Wort der Stärke sprechen müssen, nicht aber ein Wort der Tyrannei. Ich hätte in die Verantwortung treten müssen.
Sehr wahrscheinlich hätte E. sich von mir sowieso nichts sagen lassen, aber wenn es um Leben und Tod geht, muß man da nicht alles versuchen?
Aber genau das war mir damals noch nicht klar gewesen. Ich war nicht Manns genug, mir selbst eine Meinung zu bilden und diese vorzubringen.

Wir hatten ohnehin schon so viele Schwierigkeiten:
Konflikte mit meinen eifersüchtelnden Geschwistern, besonders Anfeindungen seitens eines meiner Brüder, der noch im Hause lebte. Daraus ergaben sich erneut Schwierigkeiten mit meinen Eltern, in deren Haus wir ja gerade einzogen. E. fühlte sich zu Recht gegängelt und schikaniert, ich war voll und ganz auf ihrer Seite und stand hinter ihr. Dennoch ergaben sich daraus auch wieder Probleme zwischen uns beiden…
Trotz der immer wieder auftretenden Konflikte mit meinem Bruder und meinen Eltern hat sich meine Mutter aber doch sichtlich sehr gefreut, als sie von der Schwangerschaft erfuhr, und in E.´s Familie hätte man den neuen Erdenbürger mit Sicherheit freudig begrüßt.
Dennoch kam es anders…

Die Entscheidung

E. wußte, daß es kein Problem war, die Erlaubnis „dafür“ zu bekommen, man mußte nur im Beratungsgespräch die entsprechenden Dinge vorbringen.
Das war dann auch so. E. hat danach nicht beraten gewirkt, sondern so, daß sie bekommen hat, was sie bereits vorher wollte.
Ich weiß nicht mehr ganz genau, welche Organisation das Gespräch damals mit E. durchgeführt hat, bin mir aber recht sicher, daß es die namhafte Organisation ist, die heute noch in diesem Bereich tätig ist, und deren lateinischer Name heute für mich wie böser Hohn klingt und wie ein Schlag ins Gesicht ist. Für uns, vor allem für E. lautete er wie „pro forma“.

Für E. war es klar, daß ich nicht mit zur Beratung komme. Sie wußte anscheinend, was sie wollte. Mich zog es nicht dorthin. Ich habe mich gedrückt, war froh, damit nichts zu tun haben zu müssen. Es war so schön bequem für mich, auch bequem, scheinbar keine Verantwortung zu tragen.
E. machte damals den Eindruck auf mich, als wolle sie nur das Papier mit der Erlaubnis. Das es in Wirklichkeit das Todesurteil über einen Menschen war, dem es egal war, unter welchen Umständen er gezeugt und in welche Situation er hineingeboren werden würde, der einfach leben wollte, L E B E N, das war uns nicht klar.
Kommen Sie mir jetzt nicht damit, daß man dies auch anders sehen könne! Der Gang der weiteren Ereignisse hat mich etwas ganz anderes gelehrt! Heute weiß auch die seriöse Forschung, daß daran keinerlei Zweifel bestehen kann.

Leben: niemand kann alleine durch Verstand und Logik wirklich schlüssig und zufriedenstellend erklären, was genau es ist, woher es kommt und wohin es geht. Es gibt einfach zu viele abenteuerliche Theorien und phan-tastische Vorstellungen darüber. Von dem einfachen, dem naheliegenden Schluß wollte man damals und will man noch mehr heute nichts mehr wissen.
Alle Ungereimtheiten ergäben so plötzlich ein stimmiges Bild und ein logisches, in sich schlüssiges Ganzes. Aber die Tatsache, einem Schöpfer gegenüber zu stehen, wollen und können viele Menschen einfach nicht wahrhaben und ertragen. Ich selbst habe damals nicht soweit gedacht. E. war Atheistin.

Ich hatte sie zur „Beratung“ gebracht. Aber ich ging nicht mit hinein. Ich weiß heute nicht mehr, ob es die Möglichkeit gegeben hätte, mitzukommen. Es erschien nicht notwendig für diesen kleinen „Unfall“.
Dennoch lag sonderbarerweise etwas Schweres, Düsteres in der Luft, das man nicht greifen konnte, als wir uns zur Beratungsstelle begaben.

Was wäre wohl geschehen, wenn ich doch dabei gewesen wäre? Wäre das vielleicht ein Signal für E. gewesen? Als ich sie dort abgesetzt habe, war mir sehr flau im Magen. Es war, als ob eine große Düsternis auf mich zukam.
Wir hätten jemanden gebraucht, der uns die Dimension des Geschehens in seiner ganzen Tragweite vor Augen geführt hätte, oder wenigstens aus verschiedenen Blickwinkeln, und nicht nur aus einem. Der uns vielleicht sogar an die Hand nimmt und mit uns Dreien hindurchgeht. Alles Weitere hätte sich schon gefunden…

Das Gift der Betäubung. Obwohl es klare innerliche Signale gab, daß irgendetwas nicht stimmte mit der Absicht, daß „es abgetrieben“ werden soll, wurde das einfach beiseitegeschoben:
weil es doch besonders der Gesetzgeber unter bestimmten Bedingungen seit einigen Jahren erlaubte. Was der Gesetzgeber sagt, ist durch Mehrheitsbeschluß zu Stande gekommen. Das kann doch nicht das Falsche sein?

Wo es doch rechtmäßig eine Organisation mit so einem Namen gibt, die einen in dieser Situation beraten durfte und sollte, das waren doch gebildete, gut geschulte, wohl meinende Menschen und keine Bestien?
Wo doch der Gesetzgeber auch gar nicht so genau hinschaut, ob es auch überhaupt richtig gemacht wird mit der Beratung, so, wie er es eigentlich vorgab. Dann kann doch alles nicht so ernst zu nehmen und schlimm sein?
Weil man doch immer offener darüber sprach, und weil es als ein Schritt betrachtet wurde, der zurück in die Freiheit führen sollte, nachdem ein „Fehler“ passiert war.
Weil man so getan hat, als ob es nur eine kleine „hygienische Maßnahme“ sei, was dabei „heraus“-kommt, ist Abfall, muß nicht einmal bestattet werden, und ein Arzt, ein Mediziner im weißen Kittel, das war doch ein Helfer der Menschheit, zu dem alle aufsehen?
Weil man nicht gewußt hat, was es wirklich ist: ein schutzbedürftiges menschliches Leben mit einschlägigen Wahrnehmungen und Empfindungen.
Weil es nicht interessant war, was dabei wirklich passierte, obwohl man es schon damals hätte wissen können, zumindest in der „Beratungsstelle“, obwohl Internet und Handy noch nicht zur Verfügung standen.
Weil es viele Menschen machten, Hunderttausende, ja Millionen auf der ganzen Welt, und das in je-
dem Jahr.

Kurzum: weil es möglich war, taten wir den Schritt, weil ja nichts dabei war, weil es viele so machten,
weil es auch vom Staat akzeptiert war.
Eine ambulante „Klinik“ zu finden, die den „Eingriff“ durchführt, war in dieser großen Stadt auch kein
Problem für E., vielleicht hat sie ja sogar in der Beratung einen Tipp bekommen? Ich weiß es heute nicht mehr.
Es hat nicht lange gedauert, ich brachte sie zur Voruntersuchung, blieb aber auch hier draußen. Dann stand der Termin vor der Türe…
Wir haben zwar leise empfunden, daß es doch ein größerer Schritt war, als wir uns eingestehen wollten, wir haben aber nicht mehr groß darüber gesprochen. Aber man merkte es E. sichtlich an: es regte sich auch bei ihr leise das Gewissen.
E. ging alleine dorthin, es war schon früher Abend im Winter, draußen war es bereits dunkel, kalt, trüb und regnerisch, wenn ich mich richtig erinnere. Ich tapezierte in unserer neuen Wohnung.
Warum ich sie auf diesem Gang nicht begleitet habe, kann ich heute nicht mehr sagen. Vielleicht hat es sich aus praktischen Gründen so ergeben, vielleicht habe ich mich gedrückt, vielleicht wollte sie es auch nicht. Auch hier war ich nicht Mann, nicht Stütze zum Anlehnen, nicht Ratgeber.

Aber trotz der anstrengenden Arbeit beim Tapezieren habe ich gespürt, daß etwas Bedeutsames passiert, etwas sehr Dunkles, Bedrückendes. Woher dieses Gefühl kam, habe ich damals nicht verstanden. Verstandesmäßig war ja scheinbar alles in Ordnung, warum war ich also so zimperlich? Oder war der Verstand vielleicht doch nicht die oberste Instanz in schwierigen Lebenssituationen?
Befanden sich unsere Argumente etwa auf einem Prüfstein, den wir vorher nicht mit einkalkuliert hatten: auf dem Prüfstein der Realität? Mene, mene, tekel…
Ich habe versucht, diese Gedanken auf all die anderen Umstände zu schieben: auf unsere Unstimmigkeiten, die Spannungen mit meiner Familie, unsere etwas wackelige wirtschaftliche Lage, nicht zuletzt auf die trübe Jahreszeit am Ende des Jahres, auf meine Unreife…
Aber all das war es nicht. Es war die Greueltat. Etwas, was nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, und wie ein Brandmal bleiben sollte: ein Mensch wird bei lebendigem Leib zerstückelt.
Er spürt die Gefahr, schon seit die Mutter die Todeszone betreten hat. Er will vor den kalten, grausamen Instrumenten in den Händen des Henkers zurückweichen, aber es geht nicht. Er will in seiner Verzweiflung schreien, aber niemand hört ihn…
Aber einer hat ihn doch gehört, einer mußte alles mit ansehen. Und so ist dieser stumme Schrei, so ist dieser Anblick über die Jahrzehnte hinweg doch noch bis zu mir durchgedrungen…
An dieser Stelle fehlen mir die Worte, bitte verzeihen Sie…

Schuld und Vergebung

Alles begann nun, sich dramatisch zuzuspitzen:
alles wurde seltsam dunkel, verworren, unlogisch, Gegensätze, die nicht auflösbar scheinen.
Der Konflikt mit meinem Bruder und daran angehängt mit meinen Eltern eskaliert. Unser Einzug scheitert, die hohe Investition für die maßgefertigte Einbauküche in den Sand gesetzt, ich „streiche die Segel“ bei meinen Eltern, arbeite nicht mehr für meinen Vater. Wohnung, Familie, Pläne, Arbeit, Zukunft, alles futsch…
Es war sehr hart für E. und mich.
Im Mietshaus ihrer Oma wird E´s alte Einzimmerwohnung gerade frei, wir ergreifen den rettenden Strohhalm. Arbeitslosigkeit, geplatzte Träume…
Unsere Ehe wird immer schlechter, es kommt immer mehr zu Auseinandersetzungen, zu krankhafter Eifer-sucht, zu der ich E. keinen Anlaß gebe. Es kommt zu vielen sehr demütigenden Szenen in der Öffentlichkeit, auch zu Raserei und Gewalt.
Viele nächtliche Wanderungen, stundenlang, ziellos gehe ich durch die Dunkelheit. Etwas war gar nicht in Ordnung. E. zieht „vorübergehend“ aus, geht fremd. Ich versuche, sie zurückzugewinnen, sie demütigt mich. Selbstmordgedanken. Scheidung. Finsternis…
Andere mögen es anders erleben, aber es war wie ein Fluch, den es ja angeblich nicht gibt. Der Fluch der bösen Tat.
E. geht bald danach eine neue Ehe ein, mit wieder jemand anderem. Das Geschehen blieb anscheinend auch auf sie nicht ohne einen größeren Eindruck: sie hat in dieser Ehe 6 gesunde Kinder zur Welt gebracht. Aber auch diese Ehe ist zerbrochen…

Ich bekomme schwere psychische Probleme…

Danke für diese „Beratung“, danke! Was nach ihr geschehen ist, hat nicht nur das Leben meines Kindes leichtfertig preisgegeben, sondern mir auch kräftig dabei geholfen, meines zu zerstören. Die Verantwortung dafür lastet den Beraterinnen scheinbar nicht auf ihren Schultern, noch nicht. Den Hauptanteil daran tragen jedoch E. und ich, vor allem aber ich. Ich war der Mann.
Es tut mir wirklich Leid, daß es mit dem Feedback für diese Beratung über 30 Jahre gedauert hat, aber nun, hier ist es…

Irgendwann treffe ich zufällig einen Schulfreund in der Fußgängerzone; er steht mit beiden Beinen im Leben, kümmert sich um mich. Er ist Religionslehrer, spricht von Gott, wenn auch vorsichtig. Von da an geht es sehr, sehr langsam wieder bergauf. Psychotherapie, Medikamente.
Auch die Familie von E. war noch lange Zeit für mich da. E. selbst habe ich nie wieder gesehen…

Die Zusammenhänge waren mir danach für sehr lange Zeit gar nicht klar.
Sehr viel später, erst nach mehreren Jahrzehnten, kam der Moment der Klarheit, und es hat danach
nicht mehr allzu lange gedauert, bis die mich seit damals quälenden Depressionen von mir weggenommen wurden.
Verstehen Sie mich nicht falsch: es war nicht so, daß ich dauernd an jenen dunklen Winterabend denken mußte, und mir viele düstere Gedanken gemacht hätte. Ganz im Gegenteil, ich habe gar nicht mehr daran gedacht. Aber etwas war auf mich gekommen, hatte nach mir gegriffen, hatte Besitz von mir ergriffen, ohne daß ich es wollte, ohne daß ich mir erklären konnte, was es war und was es mit mir machte:
es war ein Post-Abortion-Syndrom.

Es stand mir nun auch glasklar vor Augen, was eigentlich geschehen war, was E. und ich getan hatten…
Wie soll man mit so einer Schuld selbst weiter leben? Auf einem langen und sehr steinigen Weg hatte ich zu meinem Schöpfer zurückgefunden und die Antwort darauf finden dürfen. Ich habe sein Friedensangebot angenommen: Schuld und Vergebung. So ist es auszuhalten.

„Hast Du Kinder?“

In späteren Jahren, in Gesprächen mit neuen Bekanntschaften oder Kollegen, ist es oft auf die Frage gekommen: „Hast Du Kinder?“

Was antworten? Was würden Sie an meiner Stelle antworten?
„Nein“? Es stimmt, und es stimmt nicht. Da war jemand gewesen.
„Ja, aber es ist gestorben“?
Ich habe mich dazu durchgerungen, der Wahrheit die Ehre zu geben, auch wenn es schmerzlich ist:
„Ja, aber ich habe zugelassen, daß es umgebracht wurde!“

s.d.g.

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